anthroposophisch erweiterte

    Sozial- und Suchttherapie

I. Was heißt „anthroposophisch“?

Anthroposophie bedeutet: „Die Weisheit vom Menschen“.

Sie ist keinem starren Wissenschafts- und Anwendungssystem verpflichtet, sondern dem Werden und der Entwicklung selbst. Es liegt im Wesen der Anthroposophie, dass sie versucht, eine identfikatorische Erkenntnisbeziehung zu allem, dem sie begegnet, aufzubauen. Sie ist also nicht für sich selbst da, sondern auf ihren jeweiligen Begegnungspartner hin orientiert. In unseren Therapiegemeinschaften ist das in erster Linie der suchtkranke Mensch. Dieser hat aus seinem keimhaften Selbstheilungswillen zu uns gefunden, oft mit fremder Hilfe und auf persönlichen Leidensdruck hin. Dadurch sind wir ein besonderer Teil seiner Gesamtbiographie geworden und somit aufgerufen, den unterbewusst geführten Selbstzerstörungsprozess der Sucht zugunsten der selbstbewussten Sinnhaftigkeit eigenen Tuns zu überwinden oder zumindest zu unterbrechen.
Für diese Umwandlung ist das anthroposophische Menschen- und Evolutionsbild in einer erweiterten Sucht- und Sozialtherapie besonders geeignet. Es erschließt sich der seelischen und geistigen Aufmerksamkeit, die sich aus therapeutisch gewollter Mitverantwortung an das verborgene Lebens- und Schicksalsmotiv der Individualität wendet, das hinter dem Symptomhaften des Suchtverlaufes sichtbar werden will.
Diesem Motiv zur Freiheit und Wirksamkeit zu verhelfen ist unser zentrales Anliegen. Solange der:die Klient:in bei uns ist, soll unser eigenes therapeutisches und mitmenschliches Handlungsmotiv dem Selbstheilungswillen des:der Klient:n entsprechen.

II. Das besondere Menschen- und Evolutionsbild der Anthroposophie

Im Mittelpunkt des oben beschriebenen Bemühens, das verborgene Lebensanliegen des:der Klient:n immer besser verstehen und fördern zu können, stehen einige Grundüberzeugungen:

  • Die Überzeugung, dass jede menschliche Individualität eine grundsätzlich autonome geistige Wesenheit und als solche einzigartig ist und diese mit ihrer Einzigartigkeit persönlich und menschheitlich sich immer weiter entfaltend durch verschiedene Erdenleben hindurch entwickelt. Diese wiederholten Erdenleben reihen sich nicht zeitlich unmittelbar aneinander, sondern sind durch meist längere Aufenthalte in rein geistigen Daseinsbereichen unterbrochen. In diesen reift die Individualität der im Irdischen gemachten Erfahrungen bis zu einem neuen Erdenleben so aus, dass immer neue Erlebnisse und Fähigkeiten als Bereicherung und Vervollkommnung ihres Wesens ihr unverlierbares Eigentum werden.
  • Die Überzeugung, dass jeder Mensch sein eigenes Schicksalswollen und Schicksalserleben hat, welches zum großen Teil als Wirkung von Taten und Absichten vergangener Lebensläufe in dem gegenwärtigen zu verstehen ist. Dieser reale Wirkungszusammenhang bleibt dem Menschen im normalen Tagesbewusstsein des Lebens zumeist unbewusst. In gewissem Sinne ist dies eine Gnade, denn nur dadurch wird der Mensch bei allem, was ihm innerlich oder äußerlich als sein Schicksal widerfährt, seine Handlungs und Entscheidungsfreiheit potenziell bewahren und in freier Weise sich zu dem jeweiligen Schicksalsereignis stellen können.
    Das Ereignis, auch wenn es so existenziell erschütternd erscheint wie eine schwere Suchterkrankung, hat nicht per se die Macht, gleichzeitig den selbstbewussten denkenden Menschen in ein determiniertes Reaktionsschema hinein zu zwingen. Die Antwort des Menschen auf Ereignisse entscheidet über sein Tun und Lassen. Er kann sogar, wenn er sich seiner inneren Freiheitsfähigkeit dem Ereignis gegenüber bewusst wird, diesem einen entwicklungsfördernden Sinn zusprechen.
  • Die Überzeugung, dass der Mensch mit seinen Mitmenschen, mit den Reichen der Natur, mit den Wesen der geistigen Welten und mit seinem Erdenplaneten insgesamt eine weisheitsvoll abgestimmte Entwicklung durchmacht. Er ist also immer auch ein soziales Wesen. Nur wenn die Beziehungen zu seinen jeweiligen Sozialpartner:innen einen gewissen Qualitätsgrad erreichen, kann seine Gesamtexistenz als befriedigend von ihm erlebt werden. Dieses gesunde Beziehungsverhältnis ist jedoch niemals starr. Besonders der Suchtprozess stellt diese notwendige Partnerschaft zwischen Individualität und Gemeinschaft umfassend und tiefgreifend infrage. Vereinsamung und soziale Ausgrenzung folgen. Daher besteht der Kernbereich der Suchthilfe in den Hiram-Initiativen sowohl in einer dem:der Einzelnen in seelischer Weise zugeneigten Suchttherapie, welche soziale Verantwortung durch Selbsterkenntnis innerlich veranlagen soll, als auch in einer Sozialtherapie, welche die heilungsfördernden Bedingungen herzustellen hat, durch die der:die Einzelne wieder zu sich selbst durch Welterkenntnis finden kann.
III. Aspekte unserer sozialtherapeutischen Arbeit

Der moderne Mensch geht im Verlaufe seines Lebens viele komplexe Beziehungen mit Gemeinschaften ein, die zueinander eine mehr oder weniger heterogene Wertekultur haben. Familiäre, schulische, klerikale oder ökonomische Prägungen sind nicht mehr aufeinander abgestimmt, sodass der Mensch ab dem Jugendalter, wenn er beginnt, sich und die Weltverhältnisse infrage zu stellen, kaum seelische Stabilisatoren von diesen Sozialisationsquellen mitgebracht hat. Die Jugend gründet heute kaum noch auf einer Kindheit, die gestaltet war durch rituelle und rhythmische Prozesse, wie z. B. das würdevolle Feiern von religiösen und naturbezogenen Jahresfesten. Rhythmus jedoch ist ein wesentliches Agens allen Lebens und ist durch sich selbst gesundheitsfördernd. Rituale sind förderlich für das SichgetragenundverankertFühlen des:der Einzelnen in und durch seine:ihre Gemeinschaft, soweit es noch von echter identifikatorischer Verbundenheit gestaltet und erlebt wird. Es ist daher verständlich, dass stoffliche und nichtstoffliche Suchtmittel in vielen Fällen in diesem Alter als „ErsatzSozialisationsmittel“ gewählt werden. Sie stehen stellvertretend für ein existenzielles Getragenheitsgefühl, welches nicht vermittelt werden konnte. Da das Suchtmittel seinem Wesen nach dieses Gefühl nur in illusorischer Form vermittelt, es jedoch niemals mit den ersehnten Lebensrealitäten zur Deckung bringt, folgen früher oder später bei entwickelter Abhängigkeit unausweichlich psychosozialer Abbau, Perspektivlosigkeit und Vereinsamung. Hier setzt die anthroposophisch erweiterte Sozialtherapie an. Der:die Einzelne erfährt: ohne ihn:sie, ohne sein:ihr verantwortliches Mittun und teilnehmendes Interesse kann die Gemeinschaft nicht existieren. Der Therapieraum wird zum Lebensraum, der Lebensraum zum Therapieraum . . . Im Rahmen der therapeutischen Gemeinschaft wird die suchtgeprägte, oft fremdbestimmte biografische Vergangenheit reflektiert und für die Selbstwerdung fruchtbar gemacht. Zu diesem primär gesundheits-, nicht krankheitsorientiertem Ansatz sollen umweltergreifende und sinnesintensive Impulse dienen. In verschiedenen Bereichen von künstlerischem Tun und Genießen, von kulturellen Angeboten und der Teilnahme an Beschäftigungs- und Bildungsmaßnahmen kann eine neue Sinnschöpfung erlernt werden. Dabei können mitunter erschütternde Innenerlebnisse durchgemacht werden. Der betroffene Mensch bemerkt durch neue Erfahrungen im Laufe des therapeutischen Prozesses, dass er mit einem Großteil seiner alten Art, die Außenverhältnisse und auch sich selbst zu bewerten, nicht mehr identisch sein kann. Er steht dann immer öfter vor Entscheidungen, die zu treffen er zwar schmerzlich, aber als durchaus notwendig emfindet. Denn er erlebt, wenn er sie nicht trifft, dass er mit der Welt und diese mit ihm immer weniger zusammenstimmen. Der Mensch kann dadurch schließlich eine Selbsterkenntnis erfahren und kulturschaffend werden. „Durch die anderen bekomme ich die Anregungen, die meinem Ich das geistige Wachstum ermöglichen. Sie sind durch das von mir aufgebrachte Interesse meinem Selbst zugehörig.”

IV. Aspekte unserer suchttherapeutischen Arbeit

So, wie die Sozialtherapie vorrangig die gesundmachenden Wechselbeziehungen zwischen dem Einzelnen und der zu ihm gehörigen Gemeinschaft fördert, und – aus den Gesetzen des sozialen Lebens auch fordert, so hat es die Suchttherapie in erster Linie mit der Qualität der Selbstwahrnehmungsfähigkeit zu tun, die der Einzelne benötigt, um in ein schöpferisches und erkenntnisaktives Verhältnis zu sich selbst zu kommen. Der:die Therapeut:in kann dies nicht fordern, sollte es jedoch immer fördern – sowohl aus dem oben beschriebenen Menschenbild heraus, als auch aus dem, was er:sie als den verborgenen Willen nach Gesundheit beim:bei dem:der Klient:in glaubt vorfinden zu können, wenn er:sie ihm:ihr nur genügend Geduld und empathische Aufmerksamkeit entgegen bringen würde. Unsere dafür ausgebildeten Mitarbeiter:innen (Fachtherapeut:innen) verstehen sich daher als Gedanken- und Gefühlsbegleiter:innen der Betroffenen auf einem oft steinigen und beschämenden Weg in die verdrängten Bereiche seiner:ihrer süchtig gewordenen Persönlichkeit. Sie sind bereit, da, wo Angst und Sprachlosigkeit die echten Persönlichkeitskräfte noch lähmen, dem:der Klient:in zeitweise stellvertretend in Einzel- und Gruppengesprächen das Wort, das Bild und auch den Gedanken als Angebote zur freien Verfügung zu stellen. Ziel bleibt die eigene unverwechselbare Sprach- und Ausdrucksfähigkeit des:der Klient:n. Bei der individuellen Ziefindung und Maßnahmenplanung gehen die Mitarbeiter:innen sowohl nach suchttherapeutischen wie auch sozialtherapeutischen Gesichtspunkten vor. Am ehesten kann der methodische Unterschied beider Ansätze begriffen werden, wenn man selbst an sich die Frage stellt: Wie lebt die Welt in mir nach, wie bin ich ein Anderer geworden im Verlaufe eines kürzeren oder längeren Welterlebens? Bin ich ein mehr oder weniger vollkommenes Abbild des in der Welt Erlebten? Wer wäre ich ohne diese Erlebnisse?“ Oder auch: „Haben meine Vorstellungen, meine Wünsche, meine Begierden, meine Gewohnheiten, die ich im Innern als seelische Realitäten erlebe, mehr Autonomie oder mehr Abhängigkeitscharakter, wenn sie sich der Welt zuwenden?“ In diese Fragerichtungen gehen z. B. die Einzelgespräche mit Klient:innen innerhalb der suchttherapeutischen Zuwendung. Die Sozialtherapie macht das anders. Sie wendet sich gleichsam um und geht der Fragestellung nach: „Wie kann der Einzelne sich so in die Gemeinschaft mit seinen intellektuellen, handwerklichen und charakterlichen Qualitäten, aber auch mit seinen temporären oder dauerhaften Defiziten arbeitend, begegnend und erlebend hineinstellen, dass dieses zum größtmöglichen Gedeihen sowohl für ihn, als auch für alle anderen am Sozialprozess Beteiligten geschehen kann?“ Hier ist eigentlich der:die Klient:in die Gemeinschaft, zu der zwar in erster Linie die Menschen, aber auch die Tiere, die Pflanzen, ja die ganze Infrastruktur der Landschaft und Gebäude etc. gehören. Beide methodischen Richtungen schließen sich im gesamttherapeutischen Kontext wieder zusammen und offenbaren, dass „Ich und Welt“ eigentlich eines Wesens sind, dem man von mindestens zwei verschiedenen Richtungen her begegnen kann. Selbstwahrnehmung, Selbsterfahrung und Selbsterkenntnis – sie werden im Hiram Haus vom suchttherapeutischen Team in allen Gesprächssituationen als schrittweise zu erlangende Fähigkeiten, nicht aber als fixe Zielzustände angestrebt. Sie werden außerdem, weil es den Lebenstatsachen entspricht, immer im organischen und dynamischen Kontext mit der Sozialtherapie zu verstehen sein.

Beim Schauen in das eigene Seeleninnere finde ich im Wesentlichen gefühlte und vorgestellte Inhalte, welche Abbilder von Welttatsachen sind. Zu diesen sage ich ICH. Ich müsste eigentlich WELT zu ihnen sagen. Beim tätigen Mich-Verbinden mit den Welttatsachen finde ich überall mein Schicksal. Dazu sage ich WELT. Ich müsste eigentlich ICH dazu sagen. Mich selbst in der Welt zu suchen, die Welt im Ich zu erkennen ist Seelenatem.

Rudolf Steiner
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