Das Konzept der Salutogenese
... enthält viele Gemeinsamkeiten mit dem anthroposophisch orientierten Verständnis über die Entstehung von Gesundheit. Für die therapeutische Arbeit mit abhängigkeitskranken Menschen, besonders im Hinblick auf eine Ressourcenorientierung, ist die Salutogenese von höchster Bedeutung. Sie beantwortet die Frage, welche Faktoren einen Menschen trotz unterschiedlicher, schwerwiegender, gesundheitsgefährdender Einflüsse gesund machen.
Die folgenden Merkmale charakterisieren diesen Ansatz:
- Gesundheit ist ein labiler Gleichgewichtszustand, der vom Organismus fortwährend in der Überwindung von krankmachenden Einflüssen hergestellt werden muss.
- Gesundheit und Krankheit sind keine sich ausschließenden Zustände, sondern Pole eines Gesundheits-Krankheits-Kontinuums.
- Jeder Organismus ist mehr oder weniger gesund und gleichzeitig mehr oder weniger krank, d. h. Krankheit und Gesundheit sind parallele, zeitgleiche Zustände.
Ein abgeleitetes Ziel dieser Gesundheitsauffassung ist daher eine Bewegung des Organismus in Richtung des gesunden Pols zu fördern. Dies bedeutet die Stärkung gesunder Anteile gegenüber krankmachenden Einflüssen. In der Identifizierung und Förderung der gesunden Anteile zeigt sich die grundsätzliche Ressourcenorientierung im Hiram Haus. Sie ist eine wichtige Aufgabe in der Begleitung erkrankter Menschen.
Am Beispiel eines Rückfalls kann dies verdeutlicht werden. Ein Rückfall wird weitgehend noch als Ausbruch der Krankheit betrachtet. Bleibt er aus, gilt dies oft als zentraler Indikator für den Behandlungserfolg. Für die Mitarbeiter von Hiram Haus hat das Eintreten oder das Ausbleiben eines Rückfalls als einziger Indikator keine echte Aussagekraft für den Erfolg. Die Aufmerksamkeit richtet sich stattdessen vorrangig auf die Dynamik eines Rückfallgeschehens: Ist insgesamt eine Verlängerung abstinenter Zeiten festzustellen?
Nimmt die Intensität des Rückfalls ab? Bewegt sich ein:e Bewohner:in in die Richtung einer Gesundung? Gibt es einen Zuwachs an Selbsterkenntnis? Dies sind relevante Fragen im Hinblick auf eine Rückfallbewertung im Hiram Haus.
Erst die Feststellung, ob durch einen Rückfall eine Bewegung auf dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum in Richtung Gesundheit stattgefunden hat, beantwortet die Frage nach dem Erfolg. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Suche nach den Faktoren, die diese Bewegung verursacht haben.
Zentrales Konzept der Salutogenese ist das Kohärenzerleben. Je ausgeprägter dieses Erleben ist, desto besser gelingt es einem Menschen gesund zu bleiben oder gesund zu werden. Drei Dimensionen konstituieren dieses Kohärenzerleben (Stimmigkeit): Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit.
Verstehbarkeit beschreibt ein Erleben, dass die Welt als geordnet, strukturiert, konsistent und nicht als chaotisch, willkürlich und unerklärlich wahrnimmt. Handhabbarkeit beschreibt ein Erleben, dass davon ausgeht, dass man über eigene Ressourcen verfügt oder Zugriff auf fremde Ressourcen hat, um den Anforderungen, die das Leben stellt, gewachsen zu sein. Sinnhaftigkeit ist die Dimension, die erfasst, in welchem Maße man das Leben als emotional sinnvoll empfindet. Wenigstens einige der Anforderungen, die das Leben stellt, sollten es wert sein, dass man sich mit ihnen befasst.
Je stärker diese drei Dimensionen in einem Menschen wirksam sind, desto entwickelter ist sein Kohärenzerleben und desto weiter befindet er sich in Richtung des gesunden Pols.
Salutogenese sieht in der Sinnhaftigkeit die bedeutsamste Dimension. Sie beschreibt den motivationalen Bereich, also die Bereitschaft des Menschen, sich der Welt und sich selbst zuzuwenden. Diese Dimension erhält auch in den Behandlungskonzepten von Hiram Haus einen hohen Stellenwert: die Stabilisierung der Identität durch Sinnsuche und individuelle Sinngebung zieht sich als wesentlicher Heilfaktor durch alle therapeutischen Angebote.
In der salutogenetischen Forschung wird von der Möglichkeit einer dauerhaften Veränderung des Kohärenzerlebens, auch im Erwachsenenalter, ausgegangen. Bedingungen dafür sind radikale Veränderungen der sozialen und kulturellen Einflüsse, der strukturellen Lebensbedingungen und langfristig angelegte, therapeutische Interventionen. Alle Angebote von Hiram Haus erfüllen diese Kriterien: Sie sind langfristige oder auf Dauer ausgerichtete Maßnahmen, die mit einem radikalen Wechsel der sozialen Kultur und mit einer systematischen Neustrukturierung des Lebensalltags einhergehen. Es werden Antworten auf die Fragen gesucht: Was bin ich wert, wenn ich keine auf Lohnerwerb ausgerichtete Arbeit mehr verrichten kann? Was kann ich geben? Was wird gebraucht? Hiram Haus bietet Kultur und Lebensräume, in denen eine abstinente und auf Sinngebung ausgerichtete Neuorientierung stattfinden kann.
Soziale Wertschätzung und die Partizipation an Entscheidungsprozessen fördern die Entwicklung eines starken Kohärenzerlebens. Für die therapeutische Arbeit bedeutet dies, dass Probleme und Anforderungen im Geiste der Zusammenarbeit und weitestgehender Einbeziehung der Bewohner:innen erfolgen. Schwierigkeiten werden gemeinsam erörtert, Lösungen in der Achtung gegenseitiger Kompetenzen entwickelt.