Biografiearbeit

Biografiearbeit

Anthroposophisch orientierte Biographiearbeit geht davon aus, dass der Lebenslauf ein Ausdruck des Ringens der Individualität um Selbstentwicklung darstellt und dass die Lebensmotive, die zentralen Themen eines Lebenslaufes, eine vorgeburtliche Prägung aufweisen. Diese Prägungen wirken in der Biographie als Entwicklungsaufforderungen, als Notwendigkeit zum Voranschreiten in der Selbsterkenntnis und Selbstentfaltung.

Biographiefähigkeit bedeutet die selbstbestimmte Bearbeitung wiederkehrender Rhythmen, Muster und Spiegelungen im Lebenslauf mit dem Ziel tiefgreifender Selbsterkenntnis und damit verbunden der Wandlung von Verhalten und Erleben.

Die Auseinandersetzung mit der Abhängigkeit kann ein solches Lebensmotiv sein. Sie unterscheidet sich aber grundlegend von anderen biographischen Themen, da in der Auseinandersetzung mit dem Suchtmittel die Biographiefähigkeit der Individualität als solche bedroht ist.

Im Fortschreiten der Abhängigkeitsentwicklung wird die biographische Entwicklung eingeschränkt und durch die pathologische Struktur des Suchtmittels ersetzt. Erleben, Verhalten und Interaktionen als ursprünglicher Ausdruck der Individualität werden zunehmend verdrängt durch die Anforderungen, die das Suchtmittel stellt. In gleichem Maße wie sich die Identität auf das Suchtmittel einengt, geht die Biographiefähigkeit, als zentraler Ausdruck der Individualität, verloren.

In diesem Sinne bedeutet Biographiearbeit die Wiederherstellung der Biographiefähigkeit. Voraussetzungen dafür sind der Wille zur Abstinenz, der Wunsch, die Herausforderungen der Welt konstruktiv zu ergreifen und die kontinuierliche, reflektierte und gestützte Selbstthematisierung in Einzel- und Gruppengesprächen, in künstlerischer Arbeit und in der von Aufrichtigkeit und Unmittelbarkeit geprägten Begegnung mit der Individualität anderer Menschen. Biographiearbeit trägt auf diesem Wege wesentlich zur Entfaltung eines neuen Identitätserlebens und damit zur Überwindung von Abhängigkeitsstrukturen bei.

Biographiearbeit bedeutet in unserem Verständnis auch eine selbstreferenzielle Sinnkonstruktion. Die Bewertung von biographischen Ereignissen geschieht oft unter negativen Vorzeichen als eine Biographie des Scheiterns und des Versagens. In gezieltem Aufsuchen von Phasen des Gelingens wird die Biographie neu als eine Geschichte bewertet, die auch wesentliche Anteile von Erfolg und gelungener Bewältigung enthält. Im Erkennen von Stärken, selbst in den dunkelsten Zeiten des Scheiterns, erfolgt eine Erweiterung bisheriger Selbstattributierung. Es wird die Kontinuität von erwünschten Fähigkeiten entdeckt. „Auch in den Zeiten der Ohnmacht und Abhängigkeit waren bereits Fähigkeiten in mir vorhanden, die mir geholfen haben, den Mut und die Liebe zum Leben wiederzufinden“. Dies führt zu einer neuen Form der Selbstvergewisserung.

Entwicklung erfolgt selten linear. Echte Entwicklung ist vielmehr von Krisen, Brüchen und Zweifeln begleitet, von sich steigernden Vorgängen um Entfaltung und Zusammenziehung. Widerstände können aber bewältigt werden, solange die Individualität das Gefühl hat, „trotz allem“ auf dem Weg zu sich selbst zu sein.

Eine konstruktive Auseinandersetzung mit den Lebensmotiven lässt das Gefühl entstehen, wieder auf dem richtigen Weg zu sein. Diese Selbstgewissheit ist ein Ergebnis der Biografiearbeit und geht einher mit einem Erleben der Freude.
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